VK Bund: Sind Vergabeunterlagen zwei unterschiedlichen Auslegungen zugänglich, die jede für sich vertretbar ist, ‎fehlt es an der Erkennbarkeit eines Vergabeverstoßes


Enthalten die Vergabeunterlagen widersprüchliche Angaben, geht dies zu Lasten des öffentlichen Auftraggebers.

Sachverhalt:
Die Antragsgegnerin führt ein Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb zur Vergabe einer Generalunternehmerleistung für u.a. den Ersatzneubau eines Forschungs- und Laborgebäudes durch. Einziges Zuschlagskriterium ist der Preis. Die Antragstellerin wurde nach Durchführung des Teilnahmewettbewerbs zur Abgabe eines Angebots aufgefordert. Mit der Aufforderung zur Angebotsabgabe – verwendet wurde das Formblatt 211 VHB-Bund – Ausgabe 2017) wurden verschiedene Vorgaben gemacht. Unter dem Punkt Nachforderungen wurde durch Ankreuzen ausgewählt: „Fehlende Unterlagen, deren Vorlage mit dem Angebot gefordert war, werden nachgefordert.“

Zum Vertragsformular gehörte neben anderen auch das Formblatt 242 (VHB-Bund – Ausgabe 2017), diesem waren Arbeitskarten beigefügt. In diesen Arbeitskarten waren vorgesehene regelmäßige Leistungen (Inspektions- und Wartungsarbeiten einschl. Zeitabstände) einzutragen. Es wurde darauf hingewiesen, dass keine Nachforderung erfolgt, sofern die Arbeitskarten nicht mit dem Angebot vorgelegt werden. Das Angebot war dann auszuschließen. Weiterhin war im Formblatt 242 eine Option angekreuzt, wonach vom Bieter die regelmäßigen Leistungen einzutragen waren. Für Arbeitskarten mir Voreintragungen der Antragsgegnerin war im Formblatt 242 eine weiter Option angekreuzt. In diesen Arbeitskarten waren Änderungen möglich, es war aber auch die Vorlage ohne Änderungen möglich. Nach den Vertragsformularen für Wartung und Inspektion sind die Arbeitskarten Vertragsbestandteil.

Fristgerecht gab die Antragstellerin ein Angebot ab. Sämtliche Arbeitskarten – sowohl mit als auch ohne Voreintragungen – waren beigefügt. Arbeitskarten ohne Voreintragungen wurden zum Teil nicht ausgefüllt und zum Teil ausgefüllt abgegeben. Nach dem Submissionsergebnis lag die Antragstellerin auf Rang 1.

Nachdem die Bindefrist über einen Zeitraum von 9 Monaten mehrfach verlängert worden war, erhielt die Antragstellerin die Vorabinformation, dass ihr Angebot aus zwingenden Gründen ausgeschlossen wird. Dem Angebot waren Unterlagen, deren Nachforderung ausgeschlossen wurde, nicht beigefügt gewesen. Die von der Antragsgegnerin geforderten Arbeitskarten zu den Wartungsverträgen waren danach nicht vollständig ausgefüllt. Die Antragstellerin rügte den Ausschluss mit dem Hinweis, das Angebot sei vollständig abgegeben worden. Die Antragsgegnerin teilte mit, der Rüge nicht abzuhelfen.

Im Januar 2021 beantragte die Antragstellerin bei der Vergabekammer des Bundes die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens.

Beschluss:
Mit Erfolg! Der Antragsgegnerin wurde untersagt, einen Zuschlag zu erteilen. Bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ist das Vergabeverfahren zurückzuversetzen.

Die Antragstellerin ist ihrer Rügeobliegenheit nach Erhalt des Vorabinformationsschreibens nachgekommen. Zwar sind Vergaberechtsverstöße, die bereits in den Vergabeunterlagen erkennbar sind, vor Ablauf der Angebotsfrist zu rügen, ein zu Lasten der Antragstellerin erkennbarer Vergaberechtsverstoß lag jedoch nicht vor. Es muss einem verständigen Bieter bei der Vorbereitung des Angebots ohne weiteres auffallen, dass ein Vergaberechtsverstoß vorliegt. Dabei ist maßgeblich, ob dem Bieter das Übersehen des Verstoßes gegen das Vergaberecht als Vernachlässigung einer Obliegenheit vorgeworfen werden kann. Ein derart offensichtlicher Vergaberechtsverstoß ist jedoch nicht gegeben. Die Widersprüchlichkeit der den Vergabeunterlagen beigefügten Formblätter zu den Vorgaben zur Nachforderung, gerade vor dem Hintergrund der individuellen Anpassung der Formblätter durch Ankreuzen einzelner Vorgaben, hatte die Offensichtlichkeit i.S. der für eine Rechtsverwirkung notwendigen Erkennbarkeit verhindert. Der Antragstellerin konnte in diesem Verfahren kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie von eine Nachforderung geforderter Arbeitskarten ausgegangen war. Derartige Widersprüchlichkeiten der Vergabeunterlagen gehen zu Lasten des Auftraggebers.

Praxistipp:
Im Interesse eines möglichst breiten Wettbewerbs und somit der Bieter und Bewerber sowie der Gebote von Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit sollte die Nachforderung von Unterlagen grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden. Im dargestellten Verfahren wurde u.a. der Begriff „Förmelei“ benutzt, welche die Entscheidung zum Ausschluss des Bieters vom Vergabeverfahren zur Folge hatte. Entscheidend zum Tragen kommt und mit negativen Folgen behaftet ist der vermeintlich den operativen Aufwand verringernde Ausschluss der Nachforderung von Unterlagen immer dann, wenn hiervon gerade der Bieter mit dem wirtschaftlichsten Angebot wegen einer nicht heilbaren Geringfügigkeit auszuschließen ist.

VK Bund, Beschluss vom 03.03.2021 (Az.: VK 1-10/21)


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