VK Sachsen: Form und Inhalt eines Angebots: wenn nicht eindeutig, dann zu Gunsten des Bieters


27.04.2020: Grundsätzlich sind alle EU-Verfahren über eine eVergabeplattform vollelektronisch durchzuführen. Nur in Ausnahmefällen lässt § 53 Abs. 2 VgV eine andere Form der Übermittlung zu.

Sachverhalt:
Der öffentliche Auftraggeber schrieb in einem EU-weiten offenen Verfahren Stichschutzwesten für den Justizvollzug als Rahmenliefervertrag aus. In der Bekanntmachung und der Aufforderung zur Angebotsabgabe hieß es, Angebote seien elektronisch einzureichen. Gleichzeitig enthielt die Aufforderung zur Angebotsabgabe den Hinweis, dass ein den Vergabeunterlagen beigefügter Angebotskennzettel "auf den verschlossenen Umschlag geklebt" werden solle "in dem sich ihre vollständigen Angebotsunterlagen befinden". Überdies war eine Checkliste zur Selbstprüfung der Angebotsvollständigkeit Bestandteil der Vergabeunterlagen. Bieter A reichte sein Angebot nebst einer geforderten Musterstichschutzweste per Post ein. Sein Angebot enthielt kein Konzept zur "individuellen Anpassung" der Schutzwesten. Die Checkliste sah auch kein Konzept der Bieter als Angebotsbestandteil vor. Das Angebot des A wurde wegen eines Formfehlers und Unvollständigkeit ausgeschlossen. Dagegen wehrt sich A vor der zuständigen Vergabekammer.

Beschluss:
Mit Erfolg. Sowohl der Ausschluss wegen eines Formverstoßes, als auch wegen Unvollständigkeit des übermittelten Angebots sei rechtswidrig. Öffentliche Auftraggeber sind verpflichtet, die einzureichenden Unterlagen klar und vor allem widerspruchsfrei zur Verfügung zu stellen; dies gelte auch für den Regelfall der elektronischen Angebotsabgabe. Jede Unklarheit führe zu Gunsten der Bieter zur Möglichkeit, Angebote insgesamt postalisch einzureichen. Öffentliche Auftraggeber könnten die postalische Angebotsabgabe überdies zulassen! § 53 Abs. 1 VgV regle keinen eindeutigen Vorrang der elektronischen Angebotsabgabe. Vielmehr eröffne § 53 Abs. 2 VgV für physisch notwendige Angebotsbestandteile Ausnahmen (Muster, Modelle, Pläne etc.), so dass nicht eindeutige Hinweise zu Unsicherheiten bei den Bietern führten. Aufgrund der zweideutigen Formhinweise in der Aufforderung zur Angebotsabgabe habe Bieter A sein Angebot insgesamt elektronisch oder postalisch einreichen dürfen. Nichts anderes gelte für den ungerechtfertigten Ausschluss wegen Unvollständigkeit. Anforderungen an die einem Angebot beizufügenden Unterlagen könnten sich zwar außerhalb einer Checkliste befinden. Wenn der öffentliche Auftraggeber aber eine freiwillige Checkliste zur Verfügung stelle, schaffe er einen Vertrauenstatbestand im Hinblick auf die Vollständigkeit der Angebotsbestandteile. Dieser verpflichte ihn dazu, fehlende, außerhalb der Checkliste geforderte weitere Unterlagen immer nachzufordern. Insoweit reduziere sich die Ermessensausübung im Hinblick auf die Nachforderung auf Null; ein unmittelbarer Ausschluss wegen Unvollständigkeit des Angebots komme nicht in Betracht.

Praxistipp:
Im Ergebnis ist der Vergabekammer vollumfänglich zu zustimmen. Hinsichtlich der Deutung der Aussage des § 53 VgV ist jedoch Vorsicht geboten: § 53 Abs. 1 VgV regelt den Regelfall der elektronischen Vergabe aufgrund des in den Vergaberechtsgrundlagen verankerten Grundsatzes der elektronischen Kommunikation. Das erklärte große Ziel in naher Zukunft ist die papierlose Vergabe. Lediglich für Ausnahmefälle regelt § 53 Abs. 2 VgV die Möglichkeit, Angebote nicht auf elektronischem Wege zu fordern, nämlich erstens mit Verweis auf § 41 Abs. 2 VgV = „besondere Art der Vergabe“ oder „technische Hindernisse“ und zweitens, wenn zugleich physische oder maßstabsgetreue Modelle (Muster) einzureichen sind. Nur in diesen Fällen erfolgt die Kommunikation auf dem Post- oder anderen elektronischen Wege. Diese Ausnahme ist vom öffentlichen Auftraggeber auch im Vergabevermerk zu begründen.

VK Sachsen, Beschluss vom 29.11.2019, Az: 1/SVK/032-19
 

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