VK Bund: Auftragswertschätzung ‒ Funktionaler Zusammenhang mehrerer Gebäude?

 

Die Auftragswertschätzung sollte man nicht nach Schema-F vornehmen. Es ist nicht ratsam, nur einen vorteilhaften Einzelaspekt wie die technische Unabhängigkeit von Baukörpern als Nachweis der Trennbarkeit der Auftragswerte heranzuziehen. Das ist umso wichtiger, wenn der Auftraggeber, wie hier, zu Beginn des Projekts frühzeitig seinen Beschaffungsbedarf für vier Gebäude klar kommuniziert hatte. Alle Aspekte dafür und dagegen sind zu berücksichtigen.

 

Sachverhalt:

Der AG vergab die Entwurfs- und Genehmigungsplanung LP 3 und 4 von vier nahezu gleichen Gebäuden, bei denen sich die Projektkosten für ein Gebäude auf rund 4,4 Mio. Euro netto beliefen. Es erfolgte danach eine nationale Ausschreibung der Bauleistungen für das erste Gebäude. Alle Planungsunterlagen für vier Gebäude mit Unterkünften für insgesamt 600 Personen sollten innerhalb von 1 Jahr an den AG an verschiedenen Standorten fertiggestellt werden. Der unterlegene Bieter rügt u. a., dass die Bauleistung europaweit hätte ausgeschrieben werden müssen, da der EU-Schwellenwert bei dem Planungsumfang überschritten sei. Der AG vertritt die Auffassung, dass eine Gesamtbetrachtung aller vier Gebäude nicht in Betracht komme, da von Anfang an bei der wirtschaftlichen und zeitlichen Planung der Ansatz verfolgt wurde, das Vorhaben bei jedem weiteren Gebäude zunächst planerisch weiterzuentwickeln und zu verbessern. Für alle weiteren Gebäude sei eine EU-weite Ausschreibung bei jeweiliger Überschreitung der Schwellenwerte vorgesehen.

 

Der ASt wendet ein, dass der Schwellwert bereits überschritten sei, weil die Errichtung der vier Gebäude als funktionale Einheit zu betrachten seien. Dafür spreche, dass sie als Gesamtprojekt geplant wurden und die Realisierung im zeitlichen Zusammenhang stattfinde. Unerheblich sei, dass die Realisierung zeitlich versetzt erfolge und unterschiedliche Haushaltsjahre beträfe. Bereits die erste Baumaßnahme überschreite den Schwellenwert, da die Kostenschätzung aus 2020 veraltet sei.

 

Der AG beharrt darauf, dass kein funktionaler Zusammenhang zwischen den Gebäuden bestehe, weil jedes Gebäude für sich eine sinnvolle Funktion erfüllen würde. Auch sei ein technisch und wirtschaftlich getrennter Betrieb möglich. In der Haushaltsplanung sei auch zunächst nur das streitgegenständliche Gebäude aufgenommen worden. Der Gesamtbeschaffungsbedarf hätte zwar vier Gebäude umfasst, aber der Auftraggeber habe das Dispositionsrecht, ob und wann er seinen Bedarf deckt. Es handele sich daher nicht um eine Gesamtbaumaßnahme, nur weil die bisherigen Planungsleistungen für alle Gebäude vergeben wurden. Es sei üblich, um die Grundlage für die Haushaltsunterlage Bau zu schaffen. Die Realisierung weiterer Gebäude sei völlig offen. Der Auftragswert der Bauleistung für das erste Gebäude sei aktualisiert worden und habe im Zeitpunkt der Bekanntmachung der Ausschreibung 4,8 Mio. Euro betragen. Der Vortrag wurde durch die Beigeladene dahingehend ergänzt, dass das Gebäude über eigene Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen verfüge und für sich genommen abgeschlossen und unabhängig von anderen Gebäuden nutzbar sei. Ein einheitlicher Auftrag sei nur dann anzunehmen, wenn der eine Teil ohne den anderen keine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermöge. Die einheitliche Zweckbestimmung sei kein relevantes Kriterium für die Prüfung eines wirtschaftlichen und technischen Funktionszusammenhanges. Gleiches gelte für die vorgelagerte Definition eines Beschaffungsbedarfes durch den Auftraggeber.

 

Entscheidung:
Der Schwellenwert für die zu vergebende Bauleistung ist überschritten, ohne dass es auf die Überschreitung des hier betroffenen Einzelgebäudes ankommt. Entscheidend ist, dass für die Zwecke der Auftragswertschätzung in der gebotenen Gesamtbetrachtung der Schwellenwert aller Gebäude in jedem Fall überschritten ist. Dies ergibt sich aus § 106 Abs. 1 GWB, § 3 VgV i.V.m. § 1 EU Abs. 2 S. 2 VOB/A. Für die Beurteilung, ob die Arbeiten an verschiedenen Bauaufträgen untereinander auf eine solche Weise verbunden sind, dass sie letztlich als Arbeiten an einem einheitlichen Bauwerk anzusehen sind, ist auf eine funktionale Betrachtung abzustellen und darauf, ob die verschiedenen Baumaßnahmen dieselbe wirtschaftliche und technische Funktion erfüllen (EuGH, Urteil vom 15. März 2012 – C574/10, juris-Rn. 37).

 

Der AG hat ursprünglich seinen für die Auftragswertschätzung maßgeblichen Bedarf hinsichtlich aller vier Gebäude festgestellt und diesen auch nicht zwischenzeitlich reduziert. Dieser Beschaffungsbedarf ist im Ausgangspunkt heranzuziehen, denn er bildet die Grundlage des nachfolgenden Vergabeverfahrens und ist damit auch für die Schätzung der daraus entstehenden Kosten / des Auftragswertes maßgeblich. Aus der Bekanntmachung über den vergebenen Planungsauftrag ergibt sich ausdrücklich, dass alle vier Gebäude umgesetzt werden sollen. Damit dient die Errichtung der vier Gebäude einheitlich der Sicherstellung ausreichender Unterbringungskapazitäten für 600 Personen auf derselben Liegenschaft und weist eine funktionelle Kontinuität über alle Einzelbaumaßnahmen hinweg auf. Aus der der öffentlich einsehbaren Internetpräsenz des AG ergibt sich, dass die Neubauten nach Abriss der abgängigen Gebäude erforderlich werden, um deren Funktion in der angegebenen Dimension zu ersetzen und sicherzustellen. Diese Einheitlichkeit wird unterstrichen durch die Absicht des AG, die Erschließung und Außenanlagen nicht in die Auftragswertschätzung für das Gebäude einzubeziehen, sondern sie einer Gesamtbetrachtung vorzubehalten, um gebäudeübergreifende Aspekte berücksichtigen zu können. Dies spricht gegen eine isolierte Funktion des streitgegenständlichen Gebäudes.

 

Der Sache nach ähnelt das von dem AG gewählte Vorgehen hinsichtlich der vier nahezu identischen Gebäude auch der Vergabe von Mengenlosen, mit denen der Gesamtbeschaffungsbedarf von 600 Plätzen gedeckt werden soll. Diese Sichtweise verdeutlicht, dass auch das Argument, dass die vier geplanten Gebäude technisch voneinander unabhängig und auch isoliert in vollem Umfang betriebsbereit sind, nicht entscheidend sein kann. Bei Mengenlosen ist es regelmäßig so, dass die einzelnen Beschaffungsgegenstände auch für sich allein nutzbar sind. Ihre grundsätzliche Selbständigkeit ändert jedoch nichts an der gebotenen Gesamtbetrachtung der einzelnen Beschaffungsmaßnahmen. Dieses Abgrenzungskriterium der Rechtsprechung rechtfertigt nicht den Umkehrschluss, dass solche Maßnahmen, die auch isoliert eine sinnvolle Funktion erfüllen könnten, stets als eigenständiger Auftrag zu betrachten seien.

Auch das Argument des AGs, dass er seine Beschaffungsvorhaben zu den weiteren Gebäuden aufgeben könne, wenn sich kein weiterer Kapazitätsbedarf ergebe, erweist sich nicht als zutreffend, da nicht der Bedarf an Plätzen betroffen wäre, sondern die der Betreuung bei der Errichtung, die ebenso keine grundsätzliche Aufgabe des Beschaffungsbedarfs darstellt wie die noch nicht abschließend geklärte Finanzierung weiterer Gebäude. Sie stellen die Annahme eines einheitlichen Beschaffungsbedarfs nicht in Frage. Hier bietet sich die Teilung des Auftrags in Lose an, die unter dem Vorbehalt der Finanzierung ausgeschrieben werden können.

 

Die Unwirksamkeit des bereits erteilten Zuschlags ergibt sich gemäß § 135 Abs. 1 Nr.2 GWB aus dem Verstoß gegen die europaweite Bekanntmachungspflicht.

 

Fazit: 

Die Vergabekammer hat deutlich gemacht, dass ein unstreitig kommunizierter und andauernder Beschaffungsbedarf für vier Gebäude den „funktionalen Zusammenhang“ der Bauleistungen für alle Gebäude bestätigt.

 

VK Bund vom 06.07.2023, VK 2 - 46 / 23

 

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