OLG Rostock: Unwirksamkeit des Ausschlusses eines Angebotes auch bei fehlendem Angebotsschreiben

 

Die einseitige Vorgabe der Vergabestelle, bei Nichtverwendung eines in den Vergabeunterlagen enthaltenen Formblatts gelte ein Angebot „als nicht abgegeben“, steht der Einordnung als rechtsverbindliches Angebot nicht entgegen.

 

Sachverhalt:
Die Antragsgegnerin (AG) schrieb im EU-weiten Offenen Verfahren die Übernahme, den Transport und die Entsorgung (Behandlung, Verwertung, Beseitigung) von Klärschlamm aus. Drei Bieter hatten sich am Vergabeverfahren beteiligt und Angebote abgegeben. Der Eingang der Angebote erfolgte über die Online-Plattform der AG. Die formelle Prüfung der Angebote ergab u.a., dass die Antragstellerin (ASt) die Unterlagen unvollständig eingereicht hatte (fehlendes Angebotsschreiben). Die AG informierte die ASt über den Ausschluss ihres Angebotes aufgrund des fehlenden Angebotsschreibens, es läge gem. § 57 VgV kein wirksames Angebot vor. Bei dem Angebotsschreiben handele es sich um eine zwingend notwendige Unterlage, eine Nachforderung könne nach § 56 VgV nicht erfolgen. 

 

Die ASt rüge anwaltlich vertreten die Nichtwertung des Angebotes als vergaberechtswidrig. Der Rüge half die AG nicht ab und hielt an ihrer Rechtsauffassung zum Ausschluss des Angebotes fest. Darauf stellte die ASt einen Nachprüfungsantrag und trug zur Begründung u.a. vor, dass nicht erkennbar gewesen sei, dass ohne Angebotsschreiben kein Angebot vorliege. Das Erfordernis der Unterschrift auf dem Angebotsvordruck als zwingender Angebotsbestandteil sei nicht eindeutig und klar formuliert worden. Sie vertrat die Auffassung, nach Auslegung aller von ihr eingereichten Dokumente und Unterlagen ein wirksames Angebot abgegeben zu haben. 
Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, die ASt sei durch den Ausschluss nicht in ihren Rechten verletzt. Der Ausschluss des Angebotes nach § 57 Abs. 1 Nrn. 1, 2 VgV sei zu Recht erfolgt, weil die wirksam und eindeutig geforderte Form nicht eingehalten und folglich kein den Anforderungen entsprechendes Angebot fristgerecht eingereicht worden sei. Hiergegen wandte sich die ASt mit der sofortigen Beschwerde.

 

Beschluss:
Mit Erfolg! Das Angebot der ASt ist nicht zwingend auszuschließen. Auch ohne das Angebotsschreiben gem. Kapitel V. der Vergabeunterlagen liegt ein rechtverbindliches und formwirksames Angebot vor. Die vor Ablauf der Angebotsfrist eingereichten Dokumente stellen nach dem Horizont einer verständigen Vergabestelle keine unverbindliche Interessenbekundung, sondern ein hinreichend bestimmtes, rechtsverbindliches Angebot dar. Das Fehlen eines Angebotsschreibens ist nicht mit dem gänzlichen Fehlen eines Angebotes gleichzusetzen. Am Rechtsbindungswillen der ASt und am konkreten Inhalt der übermittelten Erklärungen bestehen nach Auffassung des Gerichts angesichts des Bezugs auf die Ausschreibung und der gemeinsamen Einreichung der Unterlagen keine Zweifel. 
Die Voraussetzungen für einen Ausschluss wegen Unvollständigkeit nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 VgV oder wegen Abweichung von den Vergabeunterlagen nach § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV liegen nicht vor. Es wurde ein wirksames Angebot eingereicht. Das als Formblatt zur Verfügung gestellte Angebotsschreiben stellt lediglich eine fehlende Unterlage dar. Die Zuschlagsfähigkeit eines Angebotes kann nur auf Grundlage der bis zum Ablauf der Angebotsfrist eingereichten und der zulässig nachgereichten Unterlagen beurteilt werden. Dabei können fehlende Unterlagen nach § 56 Abs. 2 VgV vom Auftraggeber nach seinem Ermessen nachgefordert werden. Von dem eingeräumten Ermessen hatte die AG, trotz Rüge der ASt, aber keinen Gebrauch gemacht. Sie war davon ausgegangen, das Angebotsschreiben könne nicht nachgefordert werden, der Ausschluss sei deshalb zwingend. 
Die Nachforderung eines Angebotsschreibens ist weder nach § 56 Abs. 2 S. 2 VgV noch nach § 56 Abs. 3 VgV ausgeschlossen. 

 

Praxistipp:
Kommt man durch Auslegung der – nicht nur im elektronischen Verfahren – eingereichten Unterlagen zu dem Schluss, dass der Bieter ein Angebot dieses Inhalts auf Basis der ausgeschriebenen Leistungen zu den vorgegebenen Bedingungen abgeben wollte, ist das Angebot grundsätzlich wertbar. 
Bei der Einführung elektronisch geführter Vergabeverfahren wurden die geübten papier- und formularbelasteten analogen Prozesse 1:1 übernommen, ohne deren Ursprünge und Notwendigkeiten zu hinterfragen. Das Angebotsschreiben bildete das Deckblatt und die Zusammenfassung eines aus zahlreichen Dokumenten bestehenden Angebotes. Die Inhalte des Angebotsschreibens (Bieter / Bewerber, erstellender Mitarbeiter, Gesamtpreis) werden heute durch die Vergabeplattformen erfasst und sind für die Vergabestellen bei Öffnung der Angebote einsehbar. 

 

OLG Rostock, Beschluss vom 01.02.2023, Au.: 17 Verg 3/22

 

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