VK Bund: Eine selbst verschuldete Verzögerung begründet keine äußerste Dringlichkeit für eine Interimsbeschaffung


Ein langsam durchgeführtes Vergabeverfahren begründet keine äußerste Dringlichkeit i.S.v. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV. Verzögerungen in einem regulären Vergabeverfahren sind regelmäßig dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen, ohne dass es dabei auf ein Verschulden im engeren Sinn ankäme.

Sachverhalt:
Die Antragsgegnerin (Ag.) führte wegen Dringlichkeit ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV durch und vergab interimsweise eine Rahmenvereinbarung über Schutzprodukte für Polizisten an die spätere Beigeladene (Bg.).

Die Ag. berief sich zur Begründung der Dringlichkeit auf unerwartet hohe Abrufe im Herbst 2021 aus einer mit der B. seit 2019 bestehenden Rahmenvereinbarung. Diese war bezogen auf die vereinbarte Vertragslaufzeit zwar noch nicht abgelaufen, aber von der darin festgelegten maximale Abrufmenge waren am 21.09.2021 bereits 73,7 % (Bestandsauftrag) bzw. 86,2 % (Aufrüstpakete) erreicht.

Im Hinblick auf eine Nachfolgeausschreibung wurde daraufhin mit der erforderlichen Bedarfserhebung begonnen. Es erfolgte eine mehrmonatige hausinterne Abstimmung, die nicht zu wesentlichen Änderungen der Leistungsbeschreibung führte. Die Neuausschreibung erfolgte zu Beginn des Jahres 2022 mit ursprünglicher Angebotsfrist 21.03.2022. Im Laufe des Verfahrens wurde die Angebotsfrist aufgrund von Bieterfragen wegen der aktuelle Coronalage sowie vorhandener Lieferverzögerungen bei Vorprodukten/Rohstoffen auf den 25.04.2022 verlängert.
Parallel wurde aufgrund der besonderen Dringlichkeit, die der Ag. nach eigener Auffassung nicht zuzurechnen gewesen sei, zur Aufrechterhaltung des laufenden Dienstbetriebes das streitgegenständliche Verhandlungsverfahren ohne Teilnehmerwettbewerb gemäß § 14 Abs. 4 Nr.3 VgV durchgeführt, da der fortgesetzte Bedarf an Schutzprodukten nicht rechtzeitig durch die Neuvergabe des Auftrages gedeckt werden könnte.

Nur die Bg. wurde mit Schreiben vom 22.03.2022 zur Angebotsabgabe aufgefordert und es erfolgte eine Interimsvergabe an sie. Nach Auffassung der Ag. lagen die ihr nicht zurechenbaren Voraussetzungen dafür vor, da die mit ihr zu beschaffenden Gegenstände dem Schutz bedeutender Rechtsgüter wie Leib und Leben und öffentliche Sicherheit dienten.

Durch die von der Ag. durchgeführte Bekanntmachung vergebener Aufträge erlangte den Ast. Kenntnis von der Interimsvergabe und rügte deren Unzulässigkeit. Sie trug u.a. vor, dass keine Dringlichkeit vorgelegen habe. Auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb hätte sie zumindest an diesem beteiligt werden müssen. Nachdem die Ag. zur Rüge keine inhaltliche Stellung genommen hatte, stellte die Ast. einen Nachprüfungsantrag bei der Vergabekammer.

Beschluss:
Mit Erfolg! Der Interimsvertrag wurde nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB für unwirksam erklärt. Nach Ansicht der Vergabekammer fehle an den Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV. Auch liege kein Fall vor, in dem die Beschaffung im Sinne einer Interimsvergabe trotz Fehlens der Ausnahmevoraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV in einem übergeordneten Interesse dennoch erforderlich gewesen wäre.

Zwar sei es unbestritten, dass die Mitarbeiter der Ag. im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung die zu beschaffenden Produkte benötigen. Allein aus der Tatsache, dass es um Produkte gehe, welche dem Schutz von Leib und Leben dienen, lasse sich jedoch nichts für den Tatbestand der äußersten Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV ableiten. Denn diese Ausnahmebestimmung beziehe sich schon im Ansatz auf einen Bedarf, der akut und unvorhersehbar entstehe. Als Ursache für einen solchen akut entstehenden Bedarf kämen regelmäßig allein akute Gefahrensituationen und höhere Gewalt in Betracht, „die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern“. Hier liege aber weder eine akute Gefahrensituation noch ein Fall der höheren Gewalt vor, die den Beschaffungsbedarf auslösen würden.

Es handele sich vielmehr um den normalen, regulären und kontinuierlichen Beschaffungsbedarf der Ag., dem keine Sondersituation zugrunde liege. Der einzige Grund, den die Ag. für die Dringlichkeit anführe, sei ein offenes Vergabeverfahren, dessen Bedarf sich bereits im September 2021 abgezeichnet habe und welches letztendlich mit europaweiter Bekanntmachung für ein offenes Verfahren eingeleitet wurde. Dieses Vergabeverfahren habe sich aus verschiedenen, von der Ag. im Einzelnen angeführten Gründen verzögert.

Verzögerungen in einem regulären Vergabeverfahren stellten aber keinen Fall einer akuten Gefahrensituation und keinen Fall der höheren Gewalt dar. Schon allein deswegen sei der Ausnahmetatbestand nicht einschlägig. Der Bedarf sei nicht infolge eines akuten Gefahrenszenarios entstanden, ein verzögertes reguläres Vergabeverfahren sei von vornherein ungeeignet, in den Anwendungsbereich der Ausnahmenorm einbezogen zu werden.

Hinzu käme, dass § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV als weiteres Tatbestandsmerkmal voraussetze, dass „die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit (...) dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein“ dürften. Verzögerungen in einem regulären Vergabeverfahren seien jedoch regelmäßig, so auch vorliegend, dem öffentlichen Auftraggeber zuzurechnen, ohne dass es dabei auf ein Verschulden im engeren Sinn ankäme. Der öffentliche Auftraggeber sei Herr des Vergabeverfahrens. Die Abläufe seien seiner Sphäre zuzurechnen. Auch in Bezug auf die Umstände, die zur Verzögerung des offenen Verfahrens geführt hätten, lägen hier keine Gründe vor, die einen Fall höherer Gewalt darstellen würden oder die auf eine akute Gefahrensituation zurückgingen.

Zu den zeitlichen Problemen habe zudem insbesondere die Ausgestaltung des offenen Verfahrens durch die Ag. beigetragen. Zwar habe sie noch im September 2021 mit den Vorbereitungen des Vergabeverfahrens begonnen, die Bekanntmachung sei allerdings erst rund fünf Monate später erfolgt, obwohl die Bedingungen der Vergabe, insbesondere die Leistungsbeschreibung, in ihren wesentlichen Punkten unverändert geblieben seien. Die Dringlichkeit der Interimsvergabe konterkariere die Ag. im Übrigen durch ihr eigenes Verhalten. Sie habe es unterlassen, den – soweit dies in tatsächlich vorliegenden Fällen eines durch akute Gefahr oder höhere Gewalt ausgelösten Beschaffungsbedarfs möglich ist – dennoch geschuldeten Wettbewerb durch Ansprechen weiterer Unternehmen als der Bg. durchzuführen. In der Direktvergabe an die Bg. ohne Herstellung irgendeiner Art von Wettbewerb liege ein schwerer Verstoß gegen den Wettbewerbsgrundsatz (§ 97 Abw. 1 GWB).

Es läge auch kein Fall vor, in dem eine Beschaffung in einem übergeordneten Interesse notwendig gewesen wäre, obwohl wie dargelegt die Tatbestandsvoraussetzungen von § 14 Abs 4 Nr. 3 VgV nicht gegeben waren. Derartige Fälle seien dann denkbar, wenn der öffentliche Auftraggeber rechtsirrig der Meinung war, die jeweilige Leistung (aus unterschiedlichen Rechtsgründen) direkt vergeben zu dürfen, die Leistung im Interesse der Allgemeinheit, insbesondere unter Gesichtspunkten der Daseinsvorsorge, aber unverzichtbar ist. Die Vergabekammer weist in Ihrer Entscheidung auf Beispiele hin, bei denen dies anzunehmen sei. Vorliegend käme als übergeordnetes Interesse zwar der Schutz der Mitarbeiter der Ag. bei deren Einsätzen in Betracht. Diese seien jedoch auch ohne die Interimsvergabe aus der noch laufenden Rahmenvereinbarung grundsätzlich mit den Schutzprodukten versorgt gewesen und der Abschluss der Anschlussrahmenvereinbarung habe bevorgestanden.

Praxistipp:
Vergabestellen sollten das Zeitfenster für den Abschluss einer Anschlussbeschaffung im Auge behalten. Der Fall der Dringlichkeit stellt einen restriktiv zu handhabenden und nachvollziehbar zu begründenden Ausnahmetatbestand dar. Dieser liegt nicht vor, wenn der Zuschlag aufgrund später Planung bzw. verzögerter Umsetzung nicht vor Ablauf des laufenden Vertrages erfolgen kann und dadurch eine rechtzeitige Neubeschaffung versäumt wurde.

2. Vergabekammer des Bundes, Beschluss vom 20.07.2022 – VK 2-60/22

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