VK Nordbayern: Grundsatz der Losvergabe auch bei Leistung durch Start-Ups?

 

28.08.2023: Voraussetzung für eine Vergabe nach Losen ist, dass die ausgeschriebene Leistung losweise vergeben werden kann. Hierfür ist auch entscheidend, ob sich für die konkrete Leistung ein eigener Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen herausgebildet hat.

 

Sachverhalt:

Ausgeschrieben war die Beschaffung eines Patientenportalsystems. Dieses sollte aus einer digitalen Aufnahme, Behandlungs- und Entlassungsmanagement bestehen. Eine Losaufteilung erfolgte nicht. Von den zehn eingegangenen Teilnahmeanträgen haben acht Bewerber denselben Nachunternehmer für das Entlassungsmanagement benannt. Davon wird in fünf Fällen der Antragsteller (ASt) benannt. Der ASt selbst reichte keinen eigenen Teilnahmeantrag ein. Vielmehr rügte er erfolglos die fehlende Vergabe des Auftrags in Losen und stellte einen Nachprüfungsantrag vor der zuständigen Vergabekammer.

 

Beschluss:

Mit Erfolg. Der ASt war nach § 160 Abs. 2 GWB antragsbefugt, obwohl er keinen Teilnahmeantrag abgegeben hat. Es ist von ihm substanziiert vorgetragen worden, dass er durch die unterbliebene Losbildung verhindert wurde, sich an der Ausschreibung zu beteiligen.

 

Der Nachprüfungsantrag ist auch begründet. Die beabsichtigte Gesamtvergabe verletzt den ASt in seinen Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB i. V. m. § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB. Jedem Auftraggeber steht es zwar frei, den Gegenstand der Leistung zu bestimmen, die er beschaffen möchte. Zur Stärkung des Mittelstands müssen Leistungen aber grundsätzlich in Losen vergeben werden. Dies wäre hier möglich gewesen, da sich für die spezielle Leistung des Entlassungsmanagements ein eigener Anbietermarkt mit spezialisierten Fachunternehmen herausgebildet hat. Nach den - auf Studien gestützten - Feststellungen der Vergabekammer hat sich für das Entlassungsmanagement eine Art Start-Up-Szene mit spezialisierten Unternehmen gebildet. Dies war Folge der Neuregelungen zum Entlassungsmanagement im Krankenhausrecht. Zudem spiegeln die eingegangenen Teilnahmeanträge die Marktlage wider. Sie zeigen, dass in der aktuellen Marktsituation - entgegen der Behauptung der AG - keine komplette Patientenportalsoftware existiert. Vielmehr müssen die Bewerber auf Fachunternehmen für das Entlassungsmanagement zurückgreifen.

 

Eine losweise Vergabe ist nicht ausnahmsweise nach § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB zulässig. Es liegen keine wirtschaftlichen oder technischen Gründe vor, die dies erfordern. Bei der Bewertung dieser Frage steht dem Auftraggeber ein Beurteilungsspielraum zu, der durch die Nachprüfungsinstanzen nur eingeschränkt überprüft werden kann. Hier ist der AG jedoch von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Er hat nämlich fehlerhaft angenommen, dass kein eigener Anbietermarkt für die einzelnen Funktionsweisen des Patientenportals bestehe. Das Unterlassen einer Losbildung war daher vergaberechtswidrig.

 

Praxistipp:

Öffentliche Auftraggeber müssen den Markt erkunden, prüfen und das Festgestellte dokumentieren. Vorliegend waren die aktuellen Marktverhältnisse von wesentlicher Bedeutung. Die Frage, ob technische oder wirtschaftliche Gründe es "erfordern", von einer Losbildung abzusehen, setzt eine Bewertung des Auftraggebers voraus. Die Überprüfung erfolgt anhand der im Vergabevermerk zeitnah dokumentierten Abwägung.

 

VK Nordbayern, Beschluss vom 23.03.2023, Az.: RMF-SG21-3194-8-6

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