OLG Frankfurt: Kein Ausschluss des digitalen Angebots, bei zuvor formwidriger Abgabe per E-Mail-‎Benachrichtigung!


22.05.2020: Ein Angebot, dass entsprechend der Vorgaben in dem Vergabeverfahren ordnungsgemäß verschlüsselt und fristgerecht eingereicht wurde, darf nicht deshalb ausgeschlossen werden, weil dieses zuvor formwidrig per E-Mail-Benachrichtigung übermittelt wurde.

Sachverhalt:
Die Auftraggeberin und Antragsgegnerin schrieb in einem europaweiten offenen Verfahren den Abschluss einer Rahmenvereinbarung zur Beauftragung von Sachverständigen zur Erstellung von Gutachten für ein Polizeipräsidium in drei Teillosen aus. Die Grundlaufzeit des Vertrags war für einen Zeitraum von zwei Jahren mit der optionalen einmaligen Verlängerung um weitere zwei Jahre beabsichtigt. Einziges Zuschlagskriterium je Teillos war der Preis. Ausweislich Ziff. I.3. der Auftragsbekanntmachung waren Angebote oder Teilnahmeanträge elektronisch über das Vergabeportal einzureichen. Entsprechend weiterer Hinweise nach Ziff. 1.4 der Leistungsbeschreibung konnten Informationen zur digitalen Angebotsabgabe der beigefügten Kurzanleitung der Anlage 10 entnommen werden. Darüber hinaus waren ausführliche Informationen zur digitalen Angebotsabgabe sowie zu den Systemvoraussetzungen auf der Startseite der Vergabeplattform unter „wie kann ich ein Angebot abgeben …“ zu finden. Ein Hinweis zu den Ausschlussgründen nicht form- oder fristgerechter übermittelter Angebote, konnte schließlich Ziff. 10 der Leistungsbeschreibung entnommen werden.

Unter Wahrung der Angebotsfrist hatte die Bieterin und hiesige Antragstellerin zunächst ihr Angebot unverschlüsselt per E-Mail-Benachrichtigung am 11.06.2019 übermittelt. Unter Hinweis der Vergabestelle vom Folgetag, dass Angebote digital einzureichen seien und die übermittelte E-Mail-Benachrichtigung vom 11.06.2019 für das laufende Verfahren als gegenstandslos betrachtet würde, reichte die Antragstellerin ihr Angebot für das Teillos 2 erneut, nunmehr jedoch ordnungsgemäß verschlüsselt und fristgerecht am 17.06.2019 über das vorgegebene Bietercockpit ein. Die Antragstellerin wurde unter dem 16.09.2019 von der Antragsgegnerin dann jedoch darüber informiert, dass das Angebot vom 11.06.2019 mangels Einhaltung der Formvorschriften auszuschließen sei und überdies das Angebot vom 17.06.2019 auszuschließen sei, da dieses von dem unverschlüsselten Angebot „infiziert“ werde. Gegen diese Entscheidung wendete sich die Antragstellerin am 24.09.2019 mit einer Rüge an die Vergabekammer, mit dem Antrag, die Antragsgegnerin zu verpflichten, den Zuschlag nur unter Berücksichtigung des Angebots der Antragstellerin zu erteilen.

Beschluss:
Mit Erfolg! Der Antrag ist begründet. Das digital vom 17.06.2019 eingereichte Angebot ist form- und fristgerecht eingegangen, vgl. § 53 VgV. Fraglich sei bereits, ob der VgV überhaupt ein ausdrückliches Gebot zur Verschlüsselung von Angeboten zu entnehmen sei. Nach den Ausführungen des OLG Frankfurt diene die Verschlüsselung dem Geheimwettbewerb und lasse sich damit als Bestandteil des Wettbewerbsgrundsatzes des § 97 Abs. 1 GWB ableiten. Entgegen der Vorgaben in der VOB/A-EU zu ausdrücklichen Regelungen zur Verschlüsselung gibt es demgegenüber keine entsprechenden Vorgaben in der VgV. Eine derartige Verpflichtung könne allenfalls aus §§ 11 Abs. 2, 10 Abs. 1 VgV i.V.m. § 54 VgV gefolgert werden. Dem steht allerdings der eindeutige Wortlaut des § 54 VgV gegenüber, wonach allein der Auftraggeber verpflichtet sei, Angebote verschlüsselt abzuspeichern. Ein Ausschluss könne daher nicht auf eine fehlende Verschlüsselung gestützt werden, da sich die Ausschlussgründe auch nicht darauf bezögen. Auch erwähne § 57 VgV explizit nicht § 54 VgV. Des Weiteren sei keiner der Ausschlussgründe des § 57 Abs. 1 Nr. 1 - 6 VgV erfüllt. Ein Ausschluss könne daher auch nicht hilfsweise auf einen etwaigen Verstoß gegen § 53 VgV gestützt werden, da das Angebot vom 17.06.2019 unstreitig die Voraussetzungen des § 10 VgV und somit auch die des § 53 VgV erfülle.

Dessen ungeachtet ist es grundsätzlich zulässig, mehrere Hauptangebote einzureichen. Das Angebot vom 17.06.2019 ist daher isoliert zu betrachten. Ein Rückschluss von einem Angebot auf das andere sei damit unzulässig. Dies gelte umso mehr, wenn die Vergabestelle keinerlei Kenntnis der Inhalte beider Angebote hat, zumal das am 11.06.2019 formwidrig eingereichte Angebot zu keinem Zeitpunkt geöffnet wurde. Seitens der Antragsgegnerin bestand damit keinerlei Kenntnis, ob die Angebote identisch seien. Selbst bei Annahme der Identität läge kein Fall des § 53 VgV vor.
Ausweislich der Vorschriften der §§ 57, 54, 10 VgV bestehe keine Verpflichtung zur Verschlüsselung von Angeboten für die Bieter. § 10 VgV regele vielmehr lediglich Pflichten für den Auftraggeber. Im vorliegenden Sachverhalt habe es im Übrigen keine wirksame Vorgabe gegeben, in welcher Form die Angebote einzureichen seien; lediglich die „digitale“ Einreichung war vorgegeben. Dem genüge auch eine E-Mail. Das Angebot vom 17.06.2019 war insoweit form- und fristgerecht eingereicht worden. Es liegt kein Ausschlussgrund gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 53 VgV vor.

Praxistipp:
Die unterschiedlichen vergaberechtlichen Primärziele sind stets unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes umzusetzen. Der Ausschluss von Angeboten ist daher als letztes Mittel nur dann gerechtfertigt, wenn mildere Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Hintergrund ist insoweit der als eines der Primärziele zu verstehende Wettbewerbsgrundsatz, der einen möglichst breiten Bieterkreis gewährleisten soll. Nach neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung sollte ein Ausschluss daher auch nicht allein auf dem Gedanken der formalen Ordnung beruhen, vgl. insoweit BGH, Urteil vom 18.06.2019 – X ZR 86/17. Vielmehr sind die rechtlichen Grundlagen dem geänderten Werteverständnis entsprechend auszulegen, die einer rein formalisierenden Betrachtungsweise vorzugswürdig sind. Es empfiehlt sich daher zur Minimierung der Gefährdung des Geheimwettbewerbs durch die ggf. unverschlüsselte Einreichung von Angeboten per E-Mail-Benachrichtigung diese unverzüglich zu löschen. Andernfalls bestünde für den Auftraggeber auch die Möglichkeit die Daten verschlüsselt abzuspeichern.

OLG Frankfurt, Beschl. vom 18.02.2020 (Az.:11 Verg 7/19)

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