OLG Karlsruhe: Aufftragswertschätzung bei Planungsleistungen: HOAI hat keine Bindungswirkung

17.01:2023: Das Honorar zwischen Auftraggeber und leistendem Ingenieur kann unabhängig von den Vorgaben der HOAI vereinbart werden. Der Auftraggeber ist nicht (mehr) an die HOAI gebunden.
Bei Fehlen einer ordnungsgemäßen Auftragswertschätzung durch den Auftraggeber ist die Vergabekammer zur eigenständigen Wertermittlung berechtigt und verpflichtet. Dabei ist der Verkehrs- oder Marktwert zum Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens zugrunde zu legen. Angebote, die in einem ersten, dann aber aufgehobenen Vergabeverfahren eingegangen waren, können dabei als Anhaltspunkte herangezogen werden.

 

Sachverhalt:
Der Antragsgegner (Ag.) schrieb Ingenieurleistungen für die technische Ausrüstung eines Küchenneubaus einer JVA in einem EU-weiten Vergabeverfahren aus. Der auf Basis der HOAI geschätzte Auftragswert wurde in der Bekanntmachung mit EUR 367.500 angegeben.

Nachdem alle eingegangenen Angebote unterhalb des EU-Schwellenwertes lagen, hob der Ag. das Verfahren mit der Begründung auf, dass die Vergabeunterlagen korrigiert werden müssten, und führte im Anschluss ein nationales Vergabeverfahren mit identischem Auftragsgegenstand durch. 

Dabei forderte der Ag. u. a. den ASt. unter Hinweis auf die Aufhebung der bekanntgemachten Ausschreibung erneut zur Abgabe eines Angebots auf. In dem Aufforderungsschreiben wies der Ag. darauf hin, dass im Laufe des Verfahrens die anrechenbaren Kosten durch eine abgeschlossene Machbarkeitsstudie weiter konkretisiert worden seien und das geschätzte Honorar nun deutlich unter dem EU-Schwellenwert liege, weswegen das Verfahren auf nationaler Ebene durchgeführt werde.

Der Antragssteller (Ast.) rügte u. a. die lediglich nationale Ausschreibung. Der Auftrag hätte EU-weit ausgeschrieben werden müssen. Der Ag. wies die Rüge zurück und erteilte der Beigeladenen (B.) den Zuschlag.

Daraufhin stellte der ASt. eine Nachprüfungsantrag bei der VK Baden-Württemberg, durch den er die Unwirksamkeit des mit der B. geschlossenen Vertrages geltend machte. Der Auftrag hätte EU-weit ausgeschrieben werden müssen. Die Berufung des Ag. auf die Machbarkeitsstudie sei lediglich vorgeschoben. Der Auftragswert könne nicht anders als im aufgehobenen Vergabeverfahren festgelegt werden. Gegen einen niedrigeren Auftragswert spräche, dass bei den anrechenbaren Kosten für die Honorarberechnung weitere Kosten hätten berücksichtigt werden müssen. Hinzu komme eine starke Preiserhöhung im Küchenbereich. Fehlerhaft habe der Ag. die Honorarzone II statt der Honorarzone III vorgegeben, die aufgrund der Planung von Großküchen wie die gegenständlichen erreicht sei. Einem öffentlichen Auftraggeber sei es verwehrt, durch bindende Vorgaben das durch die HOAI vorgegebene Basishonorar zu unterschreiten. Lege man die Honorarzone III zugrunde, werde der Schwellenwert überschritten.

Die Ag. hatte eingewandt, dass schon für das aufgehobene Verfahren das Honorar mit EUR 191.530,24 ermittelt worden sei. Eine EU-weite Bekanntmachung sei allerdings erfolgt, da eine zeitlich nachfolgende RBK-Studie zu einem höheren Wert geführt habe. Dass der zunächst ermittelte niedrigere Wert zutreffend sei, zeigten die sowohl im aufgehobenen als auch im gegenständlichen Verfahren eingegangenen Angebote, die alle nicht den Schwellenwert erreichten.

Die Vergabekammer hatte den Nachprüfungsantrag wegen Unzulässigkeit verworfen, da der seinerzeitige EU-Schwellenwert von EUR 214.000 nicht erreicht worden sei. Zwar habe der Ag. bei der Einleitung des Vergabeverfahrens den Auftragswert unzutreffend geschätzt. Er habe sich auf eine Machbarkeitsstudie berufen, die bei Einleitung des Vergabeverfahrens durch die RBK-Berechnung überholt gewesen sei. Die Honorarberechnung mit einem Nettohonorar von EUR 191.530,24 sei jedoch erst nach Verfahrensbeginn und damit zu einem nicht mehr relevanten Zeitpunkt erstellt worden. 

Mangels ordnungsgemäßer Schätzung durch den Ag. hatte die Vergabekammer den Auftragswert eigenständig geschätzt.  Zugrunde zu legen seien die Angebote, die im aufgehobenen und im gegenständlichen Vergabeverfahren abgegeben worden seien und die alle unterhalb des Schwellenwertes lägen. Die Auftragsgegenstände seien identisch. Die HOAI enthalte kein Preisrecht, an das der Ag. gebunden gewesen sei. Die in den Vergabeunterlagen angegebenen anrechenbaren Kosten müsse der ASt. gegen sich gelten lassen, da eine Fehlerhaftigkeit nicht beanstandet worden sei, obwohl dies möglich gewesen wäre. In beiden Verfahren seien dieselben Werte angegeben worden. Trotzdem sei der Ag. erkennbar zu deutlich abweichenden Baukosten gekommen. Da im aufgehobenen Vergabeverfahren der Antragsgegner ebenfalls schon die Honorarzone II angegeben hatte und dies nicht beanstandet worden sei, könne die Wiederholung im gegenständlichen Vergabeverfahren nicht gerügt werden.Gegen den Beschluss der Vergabekammer legte der ASt. legte sofortigen Beschwerde ein.

 

Beschluss OLG:

Ohne Erfolg! Die sofortige Beschwerde war zulässig, aber unbegründet, da der EU-Schwellenwert nicht erreicht worden sei.  Zu Recht habe die Vergabekammer den Auftragswert selbst geschätzt mit dem Ergebnis, dass der maßgebliche Schwellenwert von 214.000 € nicht erreicht wurde. Wie sie ausgeführt habe, sei der Auftragswertschätzung der Verkehrs- oder Marktwert zum Zeitpunkt der Einleitung des Vergabeverfahrens zugrunde zu legen (§ 3 Abs. 3 VgV).

Eingeleitet wurde das zweite Verfahren durch die Aufforderung zur Angebotsabgabe. Zu diesem Zeitpunkt hätten die besten Anhaltspunkte für eine Auftragswertschätzung die Angebote, die im ersten, aufgehobenen Vergabeverfahren eingegangen waren geboten. Denn die beiden Ausschreibungen hatten den gleichen Auftragsinhalt und die gleiche Aufgabenbeschreibung. Dass die Angebote einen realistischen Ausgangspunkt für die Auftragswertschätzung geboten haben, sei dadurch bestätigt worden, dass die Angebote des zweiten, gegenständlichen Vergabeverfahrens sogar niedriger waren als die des ersten, aufgehobenen Vergabeverfahrens.

Der Verwertbarkeit der Angebote für die Auftragswertschätzung stehe nicht entgegen, dass der Ag. die ausgeschriebenen Ingenieurarbeiten angeblich nicht der Honorarzone II hätte zuordnen dürfen. Auch wenn eine Zuordnung zu Honorarzone III hätte erfolgen müssen, hätten im aufgehobenen Vergabeverfahren sämtliche Bieter (also auch der Ast.) Angebote unter Zugrundelegung der Honorarzone II angeboten, sodass sich der Ag. hinsichtlich der Zuordnung hätte bestätigt fühlen dürfen. Die Zuordnung der ausgeschriebenen Leistungen zu Honorarzone II sei vertretbar, da nicht ersichtlich sei, dass die Aufgabe mehr als durchschnittliche Anforderungen gestellt habe.

Schließlich stehe auch § 76 VgV der Kostenschätzung anhand der eingegangenen Angebote nicht entgegen, insbesondere nicht der Zuordnung der ausgeschriebenen Leistungen zur Honorarzone II.

Das Honorar zwischen dem Ag. und dem leistenden Ingenieur könne unabhängig von den Vorgaben der HOAI vereinbart werden. Der Ag. sei nicht an die HOAI gebunden. Denn laut EuGH liege in der Vorgabe verbindlicher Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren ein Verstoß gegen EU-Recht (EuGH, Urteil vom 4.7.2019 - C-377/17).

Im Hinblick auf diese EuGH-Entscheidung sei § 76 Abs. 1 Satz 2 VgV mit Wirkung ab 19.11.2020 geändert worden. Ein öffentlicher Auftraggeber könne nicht an den Vorgaben der HOAI festgehalten werden, obwohl durch Änderung des § 76 Abs. 1 Satz 2 VgV eine Bindungswirkung gerade beseitigt worden sei.

Vorgaben der HOAI könnten somit der Berücksichtigung der im aufgehobenen Vergabeverfahren eingegangenen Angebote und damit der Auftragswertschätzung für das gegenständliche Vergabeverfahren nicht entgegenstehen, selbst wenn die Angebote aufgrund der Vorgaben zu den Baukosten und aufgrund der Zuordnung zur Honorarzone II unter dem Basishonorar der angeblich einschlägigen Honorarzone III lägen.

 

Praxistipp:

Die HOAI enthält kein verbindliches Preisrecht mehr, so dass der öffentliche Auftraggeber seit dem 19.11.2020 nicht mehr an sie gebunden ist. Planungshonorare können unabhängig von den Vorgaben der HOAI vereinbart werden. Eine Unterschreitung des von der HOAI vorgegebenen Basishonorars bei der Auftragswertschätzung von Planungsleistungen ist zulässig.

Für die Auftragswertschätzung ist auf den Verkehrs- oder Marktwert bei Einleitung des Vergabeverfahrens abzustellen. Angebote aus früheren Verfahren können als Anhaltspunkt dienen.

 

OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.05.2022, 15 Verg 1/22

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